Unrealistischer Träumer (1/4): Murakami Haruki Rede zur Verleihung des International Catalunya Prize am 11. Juni 2011
Unrealistischer Träumer (1/4)
Murakami Haruki Rede zur Verleihung des International Catalunya Prize am 11. Juni 2011
Ich war das letzte Mal im Frühling vor zwei Jahren in Barcelona. Ich hatte hier eine Autogrammstunde, zu der so viele Menschen kamen, dass ich die Sitzung nicht in anderthalb Stunden abschließen konnte. Warum es so lange gedauert hat? Weil viele weibliche Leser mich küssen wollten.
Ich habe in vielen Ländern Autogrammstunden gehabt, aber nur in Barcelona haben mich Leserinnen um einen Kuss gebeten. Schon an diesem Beispiel erkennt man, wie toll die Stadt Barcelona ist. Ich bin sehr glücklich, dass ich in diese schöne Stadt zurückkommen kann, die so eine lange Geschichte hat und so reich an Kultur ist.
Leider kann ich heute nicht über die Kussgeschichte reden. Ich über ein etwas ernsteres Thema sprechen.
Wie Sie sicher wissen, gab es am 11. März um 14:46 ein schweres Erdbeben in der japanischen Region Tohoku. Das Erdbeben war so stark, dass es die Erdrotation etwas beschleunigt hat, sodass die Tage fast eine 1,8-millionenstel Sekunde kürzer geworden sind.
Die Zerstörung durch das Erdbeben selbst war riesig, aber der Tsunami, der auf das Beben folgte, hat das Land verwüstet. Die Welle erreichte teilweise 39 Meter Höhe. 39 Meter Höhe bedeutet, dass, wenn es Menschen geschafft haben, sich auf den zehnten Stock eines normalen Hauses zu flüchten, sie trotzdem nicht überlebt haben. Die Menschen am Strand hatten keine Zeit zu fliehen. Etwa 24.000 Menschen fielen dem Tsunami zum Opfer; 9.000 von ihnen werden noch vermisst. Die meisten von ihnen liegen vielleicht noch im kalten Meer. Wenn ich darüber nachdenke, wenn ich mir vorstelle, ich hätte einer von ihnen sein können, bin ich tief erschüttert. Viele Überlebende haben Familienangehörige und Freunde verloren, ihr Hab und Gut, ihr soziales Umfeld, ihre Lebensgrundlage verloren. Einige Städte und Dörfer wurden komplett weggeschwemmt. Viele Menschen haben einfach alle Hoffnung verloren.
Es scheint mir, dass Japaner zu sein das Zusammenleben mit vielen Naturkatastrophen bedeutet.
Der größte Teil von Japan liegt von Sommer bis Herbst auf dem Weg der Taifune.
Jedes Jahr haben wir gewaltige Schäden und viele Menschen verlieren ihr Leben.
Es gibt viele aktive Vulkane in Japan.
Heute sind 108 Vulkane in Japan aktiv.
Und dann sind da natürlich die Erdbeben.
Der japanische Archipel balanciert unsicher auf den vier tektonischen Platten am Rande des Ostasiatischen Kontinents.
Wir leben sozusagen auf einem Erdbebennest.
Wir können den Weg und die Ankunftszeit eines Taifuns einigermaßen abschätzen, aber Erdbeben können wir nicht vorhersagen.
In einer Sache sind wir uns jedoch sicher: es ist nicht vorbei.
Es wird in der nahen Zukunft ein weiteres schweres Beben geben.
Viele Seismologen erwarten ein Erdbeben der Stärke 8 nahe Tokio innerhalb der nächsten 20 bis 30 Jahre.
Es könnte nächstes Jahr passieren oder morgen Nachmittag.
Dennoch führen allein in Tokio 13 Millionen Menschen wieder ein normales Leben.
Leute fahren immer noch in überfüllten Zügen.
Leute arbeiten immer noch in Hochhäusern.
Ich habe nichts davon gehört, dass die Bevölkerungszahlen von Tokio nach dem Erdbeben zurückgegangen wären.
"Warum?" könnten Sie fragen.
"Warum wohnen so viele Menschen an einem so schrecklichen Ort?
Wie können dort jetzt so viele Menschen normal leben?"
Die japanische Sprache kennt den Begriff des "Mujo".
Alles auf dieser Welt wird früher oder später verschwinden, nichts bleibt wie es ist und alles ändert ständig seine Form.
Es gibt weder ewige Stabilität noch unveränderliche Unsterblichkeit.
Diese Weltanschauung des "Mujo" kommt zwar aus dem Buddhismus, wir erben sie aber aus einem anderen Zusammenhang als der Religion.
Die Idee des "Mujo" ist in die japanische Seele eingebrannt und hat sich von Urzeiten bis heute kaum verändert.
"Alles zerfließt" ist eine Art Weltanschauung der Resignation.
Daraus kann die Idee erwachsen, dass der Mensch der Natur machtlos gegenüber steht.
Aber die Japaner haben Schönheit in dieser wie Resignation wirkenden Anschauung gefunden.
Wenn wir zum Beispiel über Natur reden, genießen wir die Kirschblüte im Frühling, wir genießen die Glühwürmchen im Sommer und das bunte Laub im Herbst.
Wir genießen gemeinsam und ständig.
Wir schätzen es als eine Selbstverständlichkeit.
Die berühmten Sehenswürdigkeiten der Kirschblüte, der Glühwürmchen und des Herbstlaubs sind zu ihrer Saison immer überfüllt.
Es ist schwer, zu diesen Zeiten ein Hotel zu bekommen.
Woran liegt das?
Acknowledgments
Murakami Haruki Rede zur Verleihung des International Catalunya Prize am 11. Juni 2011
Ich habe in vielen Ländern Autogrammstunden gehabt, aber nur in Barcelona haben mich Leserinnen um einen Kuss gebeten. Schon an diesem Beispiel erkennt man, wie toll die Stadt Barcelona ist. Ich bin sehr glücklich, dass ich in diese schöne Stadt zurückkommen kann, die so eine lange Geschichte hat und so reich an Kultur ist.
Leider kann ich heute nicht über die Kussgeschichte reden. Ich über ein etwas ernsteres Thema sprechen.
Wie Sie sicher wissen, gab es am 11. März um 14:46 ein schweres Erdbeben in der japanischen Region Tohoku. Das Erdbeben war so stark, dass es die Erdrotation etwas beschleunigt hat, sodass die Tage fast eine 1,8-millionenstel Sekunde kürzer geworden sind.
Die Zerstörung durch das Erdbeben selbst war riesig, aber der Tsunami, der auf das Beben folgte, hat das Land verwüstet. Die Welle erreichte teilweise 39 Meter Höhe. 39 Meter Höhe bedeutet, dass, wenn es Menschen geschafft haben, sich auf den zehnten Stock eines normalen Hauses zu flüchten, sie trotzdem nicht überlebt haben. Die Menschen am Strand hatten keine Zeit zu fliehen. Etwa 24.000 Menschen fielen dem Tsunami zum Opfer; 9.000 von ihnen werden noch vermisst. Die meisten von ihnen liegen vielleicht noch im kalten Meer. Wenn ich darüber nachdenke, wenn ich mir vorstelle, ich hätte einer von ihnen sein können, bin ich tief erschüttert. Viele Überlebende haben Familienangehörige und Freunde verloren, ihr Hab und Gut, ihr soziales Umfeld, ihre Lebensgrundlage verloren. Einige Städte und Dörfer wurden komplett weggeschwemmt. Viele Menschen haben einfach alle Hoffnung verloren.
Es scheint mir, dass Japaner zu sein das Zusammenleben mit vielen Naturkatastrophen bedeutet.
Der größte Teil von Japan liegt von Sommer bis Herbst auf dem Weg der Taifune.
Jedes Jahr haben wir gewaltige Schäden und viele Menschen verlieren ihr Leben.
Es gibt viele aktive Vulkane in Japan.
Heute sind 108 Vulkane in Japan aktiv.
Und dann sind da natürlich die Erdbeben.
Der japanische Archipel balanciert unsicher auf den vier tektonischen Platten am Rande des Ostasiatischen Kontinents.
Wir leben sozusagen auf einem Erdbebennest.
Wir können den Weg und die Ankunftszeit eines Taifuns einigermaßen abschätzen, aber Erdbeben können wir nicht vorhersagen.
In einer Sache sind wir uns jedoch sicher: es ist nicht vorbei.
Es wird in der nahen Zukunft ein weiteres schweres Beben geben.
Viele Seismologen erwarten ein Erdbeben der Stärke 8 nahe Tokio innerhalb der nächsten 20 bis 30 Jahre.
Es könnte nächstes Jahr passieren oder morgen Nachmittag.
Dennoch führen allein in Tokio 13 Millionen Menschen wieder ein normales Leben.
Leute fahren immer noch in überfüllten Zügen.
Leute arbeiten immer noch in Hochhäusern.
Ich habe nichts davon gehört, dass die Bevölkerungszahlen von Tokio nach dem Erdbeben zurückgegangen wären.
"Warum?" könnten Sie fragen.
"Warum wohnen so viele Menschen an einem so schrecklichen Ort?
Wie können dort jetzt so viele Menschen normal leben?"
Die japanische Sprache kennt den Begriff des "Mujo".
Alles auf dieser Welt wird früher oder später verschwinden, nichts bleibt wie es ist und alles ändert ständig seine Form.
Es gibt weder ewige Stabilität noch unveränderliche Unsterblichkeit.
Diese Weltanschauung des "Mujo" kommt zwar aus dem Buddhismus, wir erben sie aber aus einem anderen Zusammenhang als der Religion.
Die Idee des "Mujo" ist in die japanische Seele eingebrannt und hat sich von Urzeiten bis heute kaum verändert.
"Alles zerfließt" ist eine Art Weltanschauung der Resignation.
Daraus kann die Idee erwachsen, dass der Mensch der Natur machtlos gegenüber steht.
Aber die Japaner haben Schönheit in dieser wie Resignation wirkenden Anschauung gefunden.
Wenn wir zum Beispiel über Natur reden, genießen wir die Kirschblüte im Frühling, wir genießen die Glühwürmchen im Sommer und das bunte Laub im Herbst.
Wir genießen gemeinsam und ständig.
Wir schätzen es als eine Selbstverständlichkeit.
Die berühmten Sehenswürdigkeiten der Kirschblüte, der Glühwürmchen und des Herbstlaubs sind zu ihrer Saison immer überfüllt.
Es ist schwer, zu diesen Zeiten ein Hotel zu bekommen.
Woran liegt das?
Acknowledgments
Thanks to Daniel S. and Andy K. for working with me on this translation.
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